Endlich koloniale Aufarbeitung – auch in Göttingen

Pressemitteilung, Dienstag, 21.09.21
 
Die zivilgesellschaftliche Vernetzung Göttingen Postkolonial und der AStA der Uni Göttingen fordern gemeinsam eine kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit insbesondere auch mit der Göttinger Vergangenheit und den daraus entstandenen kolonialen Kontinuitäten.  Bis heute ist struktureller Rassismus auch hier vor Ort ein großes Problem und eine Herausforderung für ein offenes Miteinander in Göttingen. Anlassnehmend an der Eröffnung der Ethnographischen Sammlung des Humboldt-Forums in Berlin am 23.09. fordern wir gemeinsam von Verantwortlichen in der Stadt und der Universität sich dieser Themen anzunehmen und die zivilgesellschaftlichen Bemühungen gegen Rassismus und koloniale Kontinuitäten zu fördern.
 
Während am 22. und 23.09. im neu erbauten Berliner Schloss das Humboldt Forum die Ethnologische Sammlung eröffnet wird, protestieren zivilgesellschaftliche und kulturpolitische Akteur*innen weiterhin gegen das Projekt.  Von den Kritiker*innen des „No Humboldt 21!“ wird gefragt, ob überhaupt die Rede von Aufarbeitung sein kann. Die Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin steht repräsentativ für die bundesweit noch immer unzureichende Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und konkret mit der Provenienzforschung in Museen. Auch die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und der ethnologischen Sammlung in Göttingen kann nicht nur im lokalen Kontext betrachtet werden. BIPoC in Deutschland und dekoloniale Initiativen aus dem Globalen Süden fordern bereits seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, eine kritische Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme von Regierungen und Gesellschaften in Europa für Verbrechen in der Kolonialzeit, von Genoziden, Versklavung und Menschenhandel bis hin zu Raub von Kulturgütern und wirtschaftlicher Ausbeutung. Diese Stimmen müssen einen zentralen Platz im öffentlichen Diskurs einnehmen.
 
Göttingen Postkolonial ist ein stets offener Zusammenschluss von Initiativen im Raum Göttingen, der sich mit der Aufarbeitung und Thematisierung von kolonialer Vergangenheit, postkolonialer Gegenwart und Visionen einer dekolonialen Zukunft beschäftigen möchte. Ziel ist es, einen verantwortungsbewussten und rassismuskritischen Umgang mit dem kolonialen Erbe vor Ort in Göttingen und der Region zu fördern. Die Aktionsgruppe Koloniale Provenienzen als Teil der Vernetzung Göttingen Postkolonial” unterstreicht die Wichtigkeit der entsprechenden Politik auf Länder- und Bundesebene für eine strukturelle Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit: “Was wir brauchen sind zentrale Strategien im Bund, bzw. zentrale Einigungen auf Länderebene, um dies ernsthaft anzugehen. Wir plädieren dafür, dass die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte auch auf EU-Ebene stattfindet, denn die Kolonialgeschichte ist ein inhärenter Bestandteil Europas.”
 
Darüber hinaus muss es aber auch lokale Strategien der Auseinandersetzung mit unserer Kolonialvergangenheit geben. Die Oberbürgermeister-Kandidatinnen planen nach eigener Aussage beide in der kommenden Legislaturperiode die Erarbeitung eines Aufarbeitungskonzeptes für die Göttinger Kolonialgeschichte, aber auch konkrete Maßnahmen für einen Diskriminierungsschutz in der heutigen Stadtgesellschaft, wie zum Beispiel durch die Einrichtung einer Antidiskriminierungsstelle.  Bei der Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit gibt es viel zu tun. Ein Anfang wäre bereits gemacht, wenn eine kritische Auseinandersetzung mit den Denkmälern der Stadt öffentlich geführt würde. Prominentestes Beispiel ist das Südwestafrika-Denkmal, an dem am 23.09.2021 um 12 Uhr eine Kunstaktion des Kollektivs “Unfairgessen” dazu einlädt, die Art und Weise, wie wir an den Genozid an den Herrero und Nama (1904 bis 1908) und die Göttinger Beteiligung darin erinnern, zu hinterfragen. Aber auch eine öffentliche Debatte zu den  Ethnographischen Sammlungen mit tausenden von Artefakten und Kunst- und Kulturobjekten sowie den Human Remains der Blumenbachschen Schädelsammlungen wäre wichtig für die Weiterentwicklung der Universitätsstadt. Ein weiteres Beispiel für eine problematische Herangehensweise ist die kolonialverherrlichende Erinnerungspolitik rund um Hermann von Wissmann in Bad Lauterberg auf die das zivilgesellschaftliche Bündnis gegen Geschichtsfälschung seit Jahrzehnten aufmerksam macht. Hier wird deutlich, dass auch im Landkreis Göttingen noch viel zu tun ist.
 
Die Universität als eine der wichtigsten Istitutionen der Stadt muss diese Problematik ebenso ernstnehmen. Durch die Arbeit des Lehrstuhls von Prof. Habermas wurde bereits ein erster Schritt zur kolonialen Aufarbeitung getan und die ersten Forschungsergebnisse auf der Webseite Göttingen Kolonial sichtbar gemacht. Nun geht es hier darum einen Umgang mit der teils brutalen Vergangenheit zu finden und darin zum Beispiel auch die Wissenschaftsgeschichte von Disziplinen wie Ethnologie, Biologie oder Medizin zu reflektieren. Eurozentristische Lehre verschließt in vielen Fällen immer noch den Blick für eine ganzheitliche Forschung in einer globalisierten Welt. Konkret fordern wir eine Verantwortungsübernahme der Institution Universität und seiner Fakultäten und Fachbereiche für eine kritische Aufarbeitung der Kolonialzeit, der Rassismusgeschichte und Wissenschaftsgeschichte sowie koloniale Kontinuitäten in Forschung und Lehre, insbesondere auch im Hinblick auf Internationale Forschung.
Dazu gehören zum Beispiel:
– Strukturelle Verankerung von kolonialismus- und rassismuskritischen Elementen in Lehre & Studium
– Verpflichtende Sensibilisierung von Lehrenden und Universitätsmitarbeitenden zu Rassismus und anderen Diskriminierungsformen und Machtverhältnissen sowie zum Diskriminierungsschutz nach AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz)
– Grundlegende finanzielle Unterstützung für die koloniale Aufarbeitung und rassismuskritische Weiterentwicklung unter Teilhabe von verschiedenen Statusgruppen der Universität
– Weiterführung der Antidiskriminierungsberatung für Studierende mit Fokus auf von Rassismus betroffene Studierende mit entsprechender (z.B.
psychologischen) Qualifikation, wie zum Beispiel durch das BIPoC-Kollektiv in der öffentlichen Veranstaltung „Die Vergangenheit in der Gegenwart “Post/Kolonialismus in der Lehre“ im vergangen Sommersemester gefordert
– Förderung und Weiterentwicklung der Provenizenzforschung an der Universität in Kooperation mit Forschenden aus dem Globalen Süden und insbesondere den entsprechenden Herkunftskontexten